Immer noch das Missverständnis um Wilhelm Busch - ‘Der Grossvater des Comics’ oder auch noch etwas Anderes? Anmerkungen zu einer gelehrten, teilweise rabiaten Verteidigung von Rolf Stolz
Ángel Repáraz
Auf einem seiner letzten Fotos imponiert uns der harte und zugleich vorsichtige, etwas alarmierte Blick. Er gehört einem Mann, der viele Jahre seines Lebens in der Provinz gelebt hat, was manchem Postmodernen immer wieder zum Skandal gereicht, und der dazu noch Erfinder von gar nicht kindlichen Kindergeschichten war. 1865 erschien der “drausige kleine Bildungsroman” von zwei “bösen Attentätern” (Stolz), Max und Moritz. Damit gelingt ihm der Durchbruch, und ein für alle Mal sollte er bekannt sein, bis heute. Wirklich bekannt? Kaum ein zweiter deutscher Dichter ist so fatal missverstanden worden wie er, so die These von Stolz. Aus eben diesem Grund will er mit seinem Beitrag “Wilhelm Busch wieder und / oder neu” entdecken.
Nicht ganz unbekannt aber ist die Heinrich Bölls Kritik betreffs Busch, gar kein Ausdruck einer schlechten Laune und eher das Produkt von etwas Anderem. Unser Autor zitiert aus den Böllschen Poetik-Vorlesungen, Frankfurt 1974: “… gewählt wurde Busch, ein Inhumaner, der sich selbst illustrierte, es ist der Humor der Schadenfreude, des Hämischen, und ich zögere nicht, diesen Humor als antisemitischen zu bezeichnen, weil er antihuman ist.” Sogar der meines Erachtens äusserst kompetente Germanist Ernst Alker findet auch etwas in der Richtung -“Aber es war in ihm eine hassvolle Ader”-, und tadelt recht schulmeisterlich seinen “nihilistischen Anarchismus”. Dagegen Stolz: “Ohne ein Sadist zu sein bzw. ohne dass es für entsprechende Handlungen irgendeinen Beleg gibt, unterdrückte er die wohl bei jedem von uns vorhandenen sadistischen Impulse nicht, sondern liess sie einfliessen in seine Gestaltungen, sublimierte sie damit.” Eines aber ist inzwischen unwiderlegbar: die Kunst Buschs bietet keinen Rückhalt für eine frömmelnde (Post)Aufklärungspädagogik.
Strikt vom gewohnten Periodisierungszwang her fällt sein Werk in die Epoche des Realismus. Im Frühjahr 1848 (Busch war damals 16) greift in Deutschland eine unerwartete revolutionäre Bewegung um sich; das Bürgertum versucht sich zu erheben. Ganz kurz aber: die Demokraten in der Paulskirche wurden in eben jenem Jahr von preussischen Truppen auseinandergejagt; kein guter Anfang also. Verarbeitet wurde die politische Entmündigung bekanntlich durch Flucht in die Isolation, also die heimische Idylle usw. Und dennoch kam, wie Stolz darlegt, die Amtskirche für Busch, der seinen Darwin kannte, auf keinen Fall in Frage – allerdings bei gleichzeitiger Distanz zur ‘offiziellen’ Sozialdemokratie. “In dieser Hinsicht steht der völlig zu Recht so volkstümliche Dichter Wilhelm Busch trotz seiner Prägung durch den Realismus und etlicher über diesen hinausweisender, geradezu experimentell-avangardistischer Versuche auch in einer Linie zur Romantik.” Im Klartext: Romantik und Spätromantik ist für ihn hauptsächlich H. Heine, teilweise auch C. Brentano.
Wilhelm Busch war widersprüchlich, betont zu Recht der Autor, vielleicht ein paar Zentimeter über dem Duschschnitt. Innerlich gärte folglich das System der Kompensationen, der Alkohol, die Tabakabhängigkeit. Trotz allem ist er “nicht zuletzt ein grossartiger Prosa-Stilist in seinen Erzählungen und seinen autobiographischen Berichten Was mich betrifft (1886) und Von mir über mich (1893/94).” Seine stilistischen Präferenzen aber, mit manchen Anleihen bei Heine und gedanklich an Schopenhauer orientiert, stiessen bereits zu seiner Lebenszeit beim Publikum auf Perplexität. Und trotadem: als Zeichner hat er uns Vignetten hinterlassen, die in ihrer Leichtigkeit durchaus an die Seite von Picasso in dessen Suite Vollard zu stellen sind.
Busch als Antisemit, ein beharrliches Klischee. Hier wird der Autor ungeduldig: “Die dummen Attacken auf den angeblichen ‘Antisemiten’ Wilhelm Busch sind ein weiterer Beleg für den geistig-moralischen Totalbankrott der alt und dement gewordenen einstigen ‘Neuen Linken’.” Als Beleg dafür werden zwei Stellen herangezogen, die eine aus Die fromme Helene, die Stolz zitiert, und eine zweite aus der Erzählung Plisch und Plum. Es war doch schon der Beginn einer ansteckenden politischen Pandemie; Busch aber hat nachweislich jüdische Freunde gehabt. Golo Mann, gar kein Busch-Fan, hat es auf den Punkt gebracht: “Der Antisemit ist eine von Buschs Spottfiguren. Er ist nicht Busch selber.” Schon wieder unser Autor: “Er ist einer der scharfzüngigsten Kritiker eines pseudoreligiösen Fanatismus, dessen Ergebnis notwendig Verdummung und Korruption ist.” Er sei ausserdem, so liest man immer wieder, der Pionier bzw. Urvater des Comics gewesen. Wohl möglich. Vor allem sind seine Bildergeschichten eine ätzende Kritik an einer bestimmten selbstzufriedenen Gesellschaftsform und an ihrem unausweichlichen Epiphänomen, eben dem Spiessbürger. Jede Etappe einer Literaturgeschichte verbirgt in sich, so der ExSS-Mann Hans Robert Jauss, ein typifiziertes, idealisiertes, satirisches oder utopisches Bild der sozialer Existenz keineswegs. So gesehen überrascht das Missverständnis bei seiner Rezeption. Ein stählern wirkendes Reich brauchte offenbar andere Projektionsfiguren.
Denn der Mensch als Kreatur/ hat von Rücksicht keine Spur, das ist das Credo von Busch, ein schwerlich falsifizierbares nebenbei gemerkt. Alker räumt letztlich ein, Busch sei ein Mann gewesen, “der den Bourgeois gründlichst durchschaute”. Ob zum Beispiel ein Georg Grosz ohne Busch möglich gewesen wäre? Stolz zitiert auch noch aus einem Brief von 1863: “Ich betrachte meine Sachen als das was sie sind, als Nürnberger Tand, als Schnurrpfeifereien, deren Wert nicht in ihrem künstlerischen Gehalt, sondern in der Nachfrage des Publikums zu suchen ist.” Wahrlich hat er auf die erhabene Kunst (Malerei) verzichtet, um sich an diese ‘Nachfrage’ anzupassen? Und was, wenn das Zeichnen und Schreiben doch sein wahres Antlitz gewesen wären? Zweifelsohne hat sich Busch mit “einer harten und kalten Welt” auseinandersetzen müssen. Und mit einer selbstsicheren und referenzdichten Sprache, ironisch, ja kaustisch notfalls, gewinnt der Autor dabei sozusagen einen “geradlinigen und gutmütigen Menschen” zurück, der seit langem Teil einer ideellen europäischen Kultur ist (Busch ist in viele Sprachen übersetzt worden; er besass übrigens eine Lesekompetenz in Englisch und Französisch). Die reinen, engelähnlichen Seelen, die an diesem Werk Anstoss nehmen, sollten gefälligst Voltaires Candide, den Quijote oder meinetwegen das Dantische Inferno oder Swift (dessen Modest Proposal sehr opportun Stolz erwähnt) einmal in die Hand nehmen und dann entscheiden, ob sie den Mond betrachten wollen oder den Finger, der auf den Mond zeigt. Hier erhalten wir eine fundierte Analyse von durchgängigen, strukturierenden Momenten eines komplexen künstlerischen Vorhabens: der Einsamkeit, der Rolle der Gewalt und des Absurden, dem Lächerlichmachen der Autoritäten usw., Hauptbestimmungen zugleich eines Lebens, einer Leidenschaft – die uns im Übrigen gar nicht so fremd vorkommen.
Stolz, Rolf, Die Schärfe des Lächelns: Wilhelm Busch. Dresden: edition buchhaus loschwitz, 2021.