1
größenordnung
die grenzen meiner hölle
- sind sie wohl auch die grenzen meiner (sprach)welt? -
behauptetest du ganz wittgensteinisch
werden mir mit jedem tag immer weiter
oder doch immer enger
das ist ja zum ersticken auf jeden fall
aber mein lieber ich bitte dich
musste ich dir unumwunden antworten
mach doch lieber kein theater mehr
und sieh dich nur um
es ist alles bloß eine sache der größenordnung
2
immer näher
noch drei schritte weiter auf dem weg
und die unkenrufe eines ungelebten lebens
noch zwei schritte weiter
und die fata morgana einer sonne
die nie untergehen will
noch einen schritt weiter
und das ende
3
revidiertes gottesurteil
vom hinterzimmergedanken heimgesucht
oder gar geplagt
beginne ich abwechslungshalber über die frage nachzudenken
die ungefähr so formuliert werden könnte
was für einen gebrauch kann ich machen
von den nächsten zwei stunden meines lebens auf der erde
vor mir in haargenau symmetrischer anordnung
links ein gedichtsband von wallace stevens
zweisprachige ausgabe von einem streber
der spanischen literarischen postmoderne übersetzt
ziemlich stümperhaft übrigens
rechts von mir aus die rotweinflasche rioja
es scheint also nahezuliegen
die entscheidung einem gottesurteil zu überlassen
oder noch viel besser
ich komme auf einmal auf das schlüsselwort
sokatira*
der beste möge den sieg davontragen
und kommt mir bitte nicht mit tricks
* baskische sportart. zwei mannschaften ziehen in entgegengesetzter richtung an den enden eines dicken seils und sieger ist die mannschaft, die die andere auf ihre seite zieht
4
ein weiteres gespräch im park
im stadtpark war es
ein tiefer ein aufgehaltener ein wie knirschender
dunkelgrüner himmel
spannte sich über uns aus
schon näher herausragend und imponierend
die mächtigen schwarzen konturen der pinienreihe
von den klavierstücken chopins war die rede
und von denen des isaac albéniz
für mich übrigens gotteslästerlich genug
mindestens so gut wie die des lungenkranken polen
und von grundsätzen auch und von gründen begründungen
hintergründen und ergründungen
unter besonderer berücksichtigung der abgründe
weißt du was hast du dich auf einmal mir zugewandt
neuerdings erlebe ich doch ein oder zweimal am tag
wie ein loch in der zeit
wie ein loch der totalen sinnesentleerung
die mich wortwörtlich zu verschlingen droht
und das sind keine black-outs dessen bin ich todsicher
und dann?
ja und dann
also dann
kein drehbuch kein script keine gebrauchsanweisungen mehr
für unser armes verletzliches unfassbares leben
keine der sogenannten tradierten überlieferungen
oder kaum irgend eine
keine der schäbigen sicherheiten der neuspanier der neudeutschen
kein rückgriff mehr auf den vorrat der erträumten städte
nichts
du bist prinzipiell nicht gefeit gegen den ansturm
der löcher
ob schwarz oder rosafarbig
und dann?
also dann
kein ausweg mehr du musst dich immer wieder von neuem
erfinden
oder etwas beruhigender gesagt wenn du willst
finde wieder den alten mut dich von neuem zu erfinden
erfinde dich bloß
erst dann
und ganz nebenbei nachdem du den ganzen martin buber
über bord geworfen hast
erst dann also
wirst du
dir selber etwas mehr ähneln
5
gedankenlyrik à la celan aus den pyräneen
eidechsen die huschen und grillen zikaden und gänse und kühe
die singen die zirpen die schnattern die brüllen
am berstenden mittag der heiligen stunde der römer
wir wandern und wandern
und steigen und steigen das ist doch der erste zustand der gnade
schmal ist der weg und wird unverhofft zum gewölbe
schon lange ist tot celan es gibt dennoch platz für die hoffnung
die beine die nicht denken können sie führen uns weiter
und weiter
der kopf endlich leer projekte sehnsüchte bewußtseinsinhalte [sogar
sie schwinden allmählich dahin
ein plötzlicher bauer am rande er will offenbar uns ansprechen
der doch wohl gehemmt wird von sein'm hirtenspanisch*
es sticht uns inzwischen die sonne heimtückisch
feigenbaum apfelbaum trauerweide und die fichten sehr schwarz
scheinen wachsam zu sein jedenfalls schweigen sie
dein goldenes haar Margarete, dein aschernes Haar Sulamit
* hirtenspanisch: paul celan
6
verrückter rat
langsamkeit des anderswerdens
deines werdens
anders werden wirst du dennoch nicht
es sei denn
du hälts inne
und holst dich ein besseres ich