Über einige Merkmale der Poesie im Zeitalter ihrer inhaltlichen Postdemokratisierbarkeit.

Anmerkungen zu Gedichte 1998-2008, Band 2 der Werke von Rolf Stolz - ein Vorwort.

Ángel Repáraz

Nehmen wir ein wenig aufs Geratewohl ein nicht zu veraltetes Buch über europäische Dichtung, An Introduction to Fifty Modern European Poets (London: Pan Books, 1982) von John Pilling. Wenn wir von mancher Dysfunktion in seiner Auswahl absehen - kein einziger englischer Dichter auf der Liste, also ein poetischer Brexit avant la lettre, dafür aber Jorge Luis Borges, Pablo Neruda und César Vallejo als europäisch zwangseingebürgert - so stellen wir fest, dass die vertretenen deutschsprachigen Dichter - Stefan George, Christian Morgenstern, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Gottfried Benn, Georg Trakl, Bert Brecht, Johannes Bobrowski und Paul Celan - 9 von 50 sind, was sehr würdige 18 Prozent ergibt. (Die Anthologie beinhaltet andererseits nur zwei weibliche Stimmen, und zwar zweier Russinnen: Anna Achmatova und Marina Zwetajewa.) The Western Canon (New York: Hartcourt Brace, 1994) dagegen, die einst ein wenig übertrieben bekanntgewordene Auswahl von Harold Bloom, listet für The Chaotic Age 29 deutschsprachige Schriftsteller (Germany) auf, davon stricto sensu 10 Dichter: Hofmannsthal, Rilke, Trakl, Benn, Brecht, Günter Eich, Celan, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger und Bobrowski (gegenüber 80 Schriftstellern für Great Britain und Ireland, 16 für Russia und 13 für Spain – und sage und schreibe 6 für Catalonia: Eine Vorahnung schon im Jahr 1994!).

Der Haken liegt wie gewöhnlich in den höchst opaken Auswahlkriterien, auf denen solche Gesamtdarstellungen beruhen. Was die deutschsprachigen Dichter anbelangt, weicht Bloom erstaunlicherweise kaum von Pilling ab, auch wenn wir in beiden Fällen ein paar Namen vermissen (Nelly Sachs, Else Lasker-Schüler oder Christine Lavant, um nur Frauen zu nennen). Das Erleuchtende dabei ist, dass im einen wie im anderen Fall die Kanonisierten dabei sind, also gerade diejenigen, die in einen gegenwärtigen Kanon aufgenommen werden durften. Von dem schon damals einsetzenden Demokratisierungsprozess bei der Verbreitung und dem Bedarf an lyrischen Texten keine Spur - ein Prozess, der außerdem eine nicht mehr wegzudenkende Folge hat: Die strukturierenden Gesetze des Gedichts sind nun, so scheint es, ein für alle Mal weggeblasen. Der Boden war bekanntlich schon vorbereitet von den großen Umwälzungen, die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stattfanden, in Deutschland ganz besonders dem Expressionismus.

Mit der Beschleunigung der historischen Zeit wird auch der Kanon schneller als zuvor neu definiert, und die Stützen des Mandarinats von Leuten, die noch vor Jahrzehnten als unberührbare vates galten, schwanken allmählich. Die Kluft zwischen konventioneller Poesie und „der anderen“ war spätestens in den Fünfzigern zu sehen. Die Studentenproteste haben stark dazu beigetragen, dass man nicht mehr so unschuldig dieser literarischen Form gegenüberstehen konnte, und die Thesen von Walter Höllerer und Enzensberger haben es auf unmißverständliche Weise zum Ausdruck gebracht. Eine nicht von der Hand zu weisende Vertretung dieses neuen fuzzy Kanons ist die poetische Kunst von Rolf Stolz, die aber dennoch solide Verankerungen in der guten (und in diesem Fall schwarzen) Tradition hat:

An den Straßen

betteln die Hunde

um Brot für die Menschen

und für sich

um einige

Knochen von Menschen

(S. 194).

Der vorliegende Band ist strukturiert worden, so der Eindruck eines etwas naiven Lesers, von den langsam strömenden Lawinen der Zeit. Es gibt kurze Gedichte, die an Stoßgebete erinnern, und viele andere, die auf langen, teilweise rhythmischen Zeilen reiten. Verfaßt buchstäblich in ganz Europa: Auf einer und derselben Seite findet sich ein in Bukarest und ein zweites auf dem Lido von Venedig datiertes Gedicht. Einmal haben wir einen Zyklus (S. 160 ff.) mit dem Titel Gabelbilder. Rumänien-Gedichte. Und ab der S. 200 sind wir schon in Waffenstille / Vereinfachte Gedichte 1999 – 2012. Ab S. 221 betreten wir das Gebiet Flüge und Grüße. Nützliche Gedichte, unlachbar. Moder-nes, „diszipliniertes“ Vagantenleben und Ähnliches werden gewürdigt in Haarbalghunde, Bauerntode. Absurde und absolut nutzlose, leider nicht unverständliche Gedichte (S. 233 ff.). Keine thematische Einheit ist zu eruieren in diesem scheinbaren Tohuwabohu, eher eine von haleine und Unterschrift. Besonders hervorzuheben sind die Liebesgedichte HAUT UND STERNE / Liebesgedichte 2004 – 2005/2007 (S. 283 ff.), in denen die kosmische Seltenheit, die unter dem Namen gelungener Liebe segelt, gefeiert wird.

So finden sich auch vermeintlich verständliche Belege, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch als kryptisch erweisen:

Leben sollte, immer nur leben sollte

der Schmetterling, den ich

für dieses Gedicht

zertrat.

(S. )

Oder auch Gedichte, die für die Akzeptierung einer Realität stehen, die schon lange als Sapir-Whorf-Hypothese kursiert, und derzufolge unsere Denkweisen von unserer Sprache vorgeformt sind:

[…] Sprachen,

die ich lernte

um nichts anderes

sagen zu können als

Ich kann nur

eine Sprache, ich habe nur

eine einzige Haft.

(S. 12, im Original die drei letzten Zeilen kursiv).

Eine Haft immerhin, aus der heraus nicht jeder so paradox elementare Dinge wie diese schreiben kann:

[…] später erst

geworden, was ich werden sollte,

immer nur

niemand, niemand

anders

als dieser unsterbliche niemand

[...]

(S. 6).

Eine sprachlich geteilte Geschichte und ihre wunden Punkte - da ist zum Beispiel der Großvater, der Teil war der schrecklichen Trecks, die im Frühling 1945 sich vor den Russen flüchteten und die auch von Christa Wolf evoziert wurden. Manchmal wird der teilweise zeitliche Zusammenfall der Massenaustreibung mit der Vernichtung einer ganzen menschlichen Gemeinschaft (kausal?) verbunden:

[…]

der Transport nach Osten

und die Austreibung westwärts

der Fremdgebliebenen

aus der fremder gewordenen Fremde.

(S. 106).

Die unausbleibliche Politik ist auch anwesend. Im teilweise deskriptiven Gedicht „Josef W.“ (S. 273 ff.), Josef Wissarionovitsch Djugaschwili also, besser bekannt als Stalin, informiert man uns von einem höchst suggestiven Verdacht: und immer der Verdacht,/ daß die Ochrana ihn laufen ließ. Konkrete Politik bietet auch „Danach“ (S. 31), wo es um einen gewissen Lavrentii Pavlovitsch Berija geht, bis kurz vor seiner wohlverdienten Erschießung im Jahr 1953 Hauptscherge des vorigen und dementsprechend absoluter Chef einer staatlichen Terrororganisation namens KGB.

Bei Rolf Stolz fehlt es nicht an lexikalischen Zusammensetzungen, für die Paul Celan ein Lächeln gehabt hätte: „Taschenjudas” (S. 20), „meerwärts und niewohin” (S. 33), „Bannaugen” (S. 35). Bei anderen weiss der ausländische Leser nicht ganz, ob sie wirklich dem Sprachsystem angehören oder dem momentanen Einfall entspringen: „Tränensud” (S. 46) oder „Tränentrockentuch” (S. 77). Manche von ihnen können regelrecht schwindelerregend sein, so „spinnwebendrahtseilfein” (S. 89). Erwähnung verdienen auch die „[Fährten ins] Absinnslose” (S. 118). Andere sind so transparent, dass es einem vom puren Gedanken daran übel wird: „die Genickschußbegeisterten” (S. 192). Es wird auch die Unmenschlichkeit der anderen thematisiert:

[…] auf englisch auch

in der Bombersprache,

[…]

(„Dresden“, S. 174).

Das entspricht der schwarzen Jurisdiktion der Poesie nach Brecht und Theodor W. Adorno. Aber es bleiben loci amoeni in dieser (poetischen) Welt, gegebenenfalls mit einer seltsamen Intensität wiedergewonnen (ich bin der einzige Sommer,/ auf den Verlaß ist (S. 127). Und – grob, wenn es nötig ist - spukt der Humor. Gemeint sind jene 13 den Sternzeichen gewidmete Gedichte, eine vertrackte Mimikry der alten Moritaten.

Der postkanonischen Lyrik fehlt, so lesen wir in der Sekundärliteratur, die sogenannte Street Credibility. Ob mit oder ohne eine solche Glaubwürdigkeit, bei Rolf Stolz werden unbenannten Mandarinen des Literatur- und Kulturbetriebs sehr glaubwürdige Seitenhiebe verabreicht:

[…]

die Höllenfahrt

der restlichen Mandarine des alten Reiches

und des Papierkaisers

der alten Welt,

[...]

(S. 218).

Zu finden ist sogar ein klarer, illusionsloser „Eigenhändiger Nachruf“ (S. 230). Und Poesie für unsere Toten:

[…] was ich spät, allzuspät wußte:

Die Toten gingen wie stets

zwischen uns stetig durch, bewegten

uns durch ihren Durchgang, [...]

(S. 208).

Mehr als einmal erinnert uns manches dreiste Reimpaar an H. C. Artmann; andere an Heinrich Heine: „Ich hab' im Leben mich verheddert” (S. 241). Fazit: Wir alle stammen von allen, und der Moebius-Teppich der Poesie ist aus ganz verschiedenen Beiträgen gewoben.

“A poem should not mean/ but be” (Archibald MacLeish). In sehr freier Übersetzung: Die dicke Glasscheibe, die unsere (poetischen) Sprachen von ihren 'äußeren' Referenzen trennt, sollte gesprengt werden; dann hätten wir vielleicht das poetische Wunder schlechthin. In dem vorliegenden Buch glauben wir Splitter vom zerbrochenen Glas wahrzunehmen, insbesondere in den ein wenig 'orphischen' Schnappschüssen, die sich wie moments musicaux ohne Musik auswirken - hat nicht Schumann Lieder ohne Worte geschrieben? Und das führt uns unversehens zu der (französischen) Legende vom Tod des Autors, dem Verschwinden also seiner empirischen, unwiederholbaren Persönlichkeit. Mag sein, daß auf diesem Gebiet nur sehr wenige begnadete Menschen befugt sind. Zäh am Leben sind immerhin

Die Monstren der Öffentlichkeit,

Michael Johnson, die Kanzlerinnen,

(S. 182) geblieben.

Einem seiner Bücher hat Emil Cioran den Titel La tentation d'exister („Die Versuchung des Daseins“) gegeben. Da meldet sich subkutan ein Unbehagen, das so lauten könnte: Haben wir wirklich mehr als Versuche gemacht? Und was würde passieren, wenn wir lauter Platzhalter für etwas anderes, für andere gewesen wären? Eine Teilantwort könnte diese Gedichtsammlung sein, die rein tonal schon unserer Zeit ähnlich ist, einer Zeit, die unter anderem immer noch obsessiv darauf beharrt, die Menschen in Nationen zu teilen:

Als wir

Deutsche waren, als wir

in Deutschland waren,

als Deutschland

vor uns lag,

als es

Deutschland noch gab,

als es

uns noch gab

(S. 44).

Vor etwa fünfzig Jahren war die Rede vom Atomtod und vom reichlich in die Praxis umgesetzten Plan der amerikanischen Eliten, ein ganzes Land, nämlich Vietnam, von unserem Planeten auszuradieren. Heute sind unsere Ängste andere. Oder hat sich nur ihr Name geändert? Nichts dergleichen sollte und soll uns dennoch von der Verantwortung befreien, unseren eigenen unverzichtbaren Weg auf der Erde zu erkämpfen:

[…]

Deine Wege

sind anders,

anders

als alle gewesenen Wege.

[…]

Dein Weg beginnt erst,

dein Weg

ist auf dem Weg

zu mir.

(S. 297).

Diese nicht selten kurzen, in ihrer Klangfarbe oft zärtlichen und dichten Gedichte können ihre Tradition vorweisen - im vorigen Jahrhundert auf deutsch Erich Fried, Antonio Machado auf spanisch. Im Hintergrund ist ein ferner, etwas gedämpfter Rumor zu hören, wenn das Ich einem Du ausweicht, das allzugut bekannt ist:

[…]

was bist du geworden

was du nicht schon warst

vom ersten Zug an

[...]

(S. 156).

Aus all diesem kann sich die lyrische Diktion für eine Zeit kultureller Müdigkeit zusammensetzen: Chroniken, nicht notwendig seriöse Lehrgedichte, kommunikative Effekte ... Aber man kann auch eine himmelschreiend ungerechte Menschheitsgeschichte konkret denunzieren:

Die Täter sterben, die Täter

bezeugten noch ihre Tat.

Die Opfer, die eben noch davonkamen

sterben mit den Tätern.

(S. 139).

Dazu kommt ein klares Bewußtsein der thermodynamischen, bio- und axiologischen Degradie-rung, die uns alle anscheinend erwartet:

Wohin geht bloß dein Weg?

Nach unten halt, wie alle.“

(S. 221).

Man wäre dazu geneigt zu glauben, die Funktion des Dichters sollte so etwas wie eine Mythologisierung unseres Lebens einschließen. In dieser Erwartung könnten wir uns wohl damit begnügen, dass man uns mit dem Vehikel Poesie etwas mehr Einsicht gönnt. Wie jeder weiß, schätzte 1989 Enzensberger die Zahl der Personen, die „einen neuen, einigermaßen anspruchsvollen Gedichtband in die Hand nehmen”, auf +/- 1354. Die völlig skurrile Zahl - die allgemeingültig für alle Sprachgemeinschaften postuliert wurde! -, wäre, so Enzensberger, im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts mehr oder weniger konstant geblieben. Angenommen, wir akzeptieren die verrückte Prämisse, was wäre mit dem Lyrikkonsum im einstigen anderen deutschen Staat DDR? Tatsache ist allerdings, daß die Verlagshäuser, die die Lyrik in ihrem Programm pflegen, oft eher klein sind. Die Edition Bärenklau ist glücklicherweise mit von der Partie, und Rolf Stolz ein Autor, der das Zeug hat, von den Lesern, die der 'Enzensberger'schen Konstante' zuzuordnen sind, wärmstens begrüßt zu werden.

Madrid, den 1. Dezember 2017

Ángel Repáraz