Der Aphorismus als Seziermesser im continuum der Tage.

Eine Annäherung an zwei Tagehefte von Rolf Stolz*

ÁNGEL REPÁRAZ


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Nulla dies sine linea. Plinius, der brave Römer, dem wir eine ganze Enzyplopädie verdanken, steht hinter dieser Maxime. Darin hat er die erwartete bunte Menge von fleißigen Nachfolgern gehabt, beispielsweise die Verantwortlichen des Kriegstagebuchs des Wehrmachtführungsstabs, dessen Gesamtheit, so liest man, etwa 4.000 Druckseiten beträgt. Und vielleicht etwas freier - es wäre gar nicht ausgeschlossen, dass in den Blechbüchsen, die in Auschwitz manche Lagerinsassen in die Erde eingruben, sich tägliche Mitteilungen aus der Hölle befänden. Nulla dies in der absoluten menschlichen Distanz.

Umberto Eco stellte 2003 fest: “Ich habe nie etwas gesehen, das weniger definierbar wäre als der Aphorismus”. Laut den einschlägigen Fachwörterbüchern sei dieser eine kurze Maxime, die eine Lebensnorm oder ein philosophischer Lehrspruch überträgt bzw. darbietet. Da denken wir sofort an Chamfort, der ja einigermaßen die kanonische, sphärische Form des Aphorismus vertritt. Aber auch an die anderen französischen Moralisten, an Hofmannsthal, Karl Kraus, Valéry, Canetti. Und an Aristoteles und Montaigne bis hin zu Lichtenberg und Schopenhauer. Und unumgänglich an Nietzsche: Alles Virtuosen einer Kunst für Seiltänzer des Wortes. Wie immer - aphoristische Kurzprosa also, die wie gewöhnlich unmittelbare Nachbarn hat: das aperçu, das Fragment, die Maxime, die Sentenz, der Blog, lauter klassifikatorischer Treibsand. Im Deutschen wird die Sache noch komplexer mit der Existenz eines Wortfeldes, das Stundenbuch, Tagebuch, Jahrbuch usw. beinhaltet. Vielleicht hallt in der Auswahl des Terminus Tageheft(e) ein Körnchen Widerstand nach: kein Tagebuch also, kein Buch eigentlich, sondern etwas anderes.

Wir aber, die wir gern als selbsternannte Testamentsvollstrecker von Hofmannsthal - Das Buch der Freunde - und vom Novalis des Brouillon fungieren würden (manchmal kommt der Autor an die Novalissche Mathematik heran: “Die Normalnullen zählen nicht einmal imaginär”, 3. 4. 2012), ganz zu schweigen von Camus - die Carnets -, können doch die Vermutung äußern, dass diese Aufzeichnungen irgendwo auf der halben Strecke des Winkels liegen, den Camus und Hofmannsthal bilden. Für J. A. Cuddon kondensiert ein gelungener Aphorismus 'einen Teil' der Wahrheit. Bleiben wir beim Verb kondensieren, gerade weil auch der Autor in Zuvor (erstes Heft) uns sagt: “In den TAGEHEFTEN habe ich seit dem 1. Mai 2011 Tag für Tag festgehalten, was mir wichtig war – in einem oder mehreren Sätzen.” Festgehalten: der Wille, allen Praktikanten des Aphorismus gemeinsam, mehr oder weniger karg aufzubewahren, unter Umständen sogar sich selbst zu analysieren. Zu retten...?

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Die Gegenstände, auf die sich die Aufmerksamkeit des Autors richtet, sind denkbar verschieden; zugleich ist der Diskurs aber auch auffallend schmucklos, wenn es umBegegnungen, Landschaften oder Pläne geht. In diesem Sammelsurium sind trotzdem nicht selten Beobachtungen zu eruieren, die lupenrein marcaurelisch sein könnten: “Akzeptiere, daß es unakzeptable Menschen gibt. Nimm auch sie, wie sie sind” (16. 6. 2014). Sogar mit kurzen Gedichten werden wir überrascht, leicht, pointiert, ein wenig gnomisch und nicht ganz ohne Moral. Und die in ihrer Schonungslosigkeit manches Mal unerwarteterweise auf Paul Celan reimen (15. 5. 2011). Oder aber auch Stücke, die ganz und gar als Haikus gelten könnten.

Wir wundern uns nicht, wenn auf diesen Seiten Literatur in Hülle und Fülle spukt, einschließlich kritischer bzw. ätzender Urteile über den (deutschen) Literaturbetrieb - 'Geschwätz', 'erbärmliche Scherzchen', 'ein hoffnungslos verdummtes Publikum', dies alles wird an einem einzigen Tag eingetragen. Der Spruch von Karl Kraus “man lebt nicht einmal ein Mal” läßt Aktualisierungen zu: “Wir sind nicht einmal nichts” (23. 1. 2013). Auf seine Weise ist Stolz auch ein religiöser Mann, wieder einmal als Normabweichung, versteht sich; am 23. 9. 2011: “Unsere Nachfolge Christi: Unser Anfang, seine Ewigkeit.” Eines ist uns ja längst klar: um die Figur Christus kommen wir nicht herum. Vielleicht könnte man diesbezüglich von einem Nullgrad der Religiosität reden, sehr sichtbar am 16. 2. 2012: “Gottes Gnade und die Ohnmacht des Menschen: Wir sind mehr, als wir sein können.” Zu kontrastieren wäre dies mit dem 7. 1. 2013: “Auch die Christen HABEN keinen Gott, so wenig wie die anderen”. Da wird der Autor ein bißchen existentialistisch, eine negative Theologie, beinah einen universellen religiösen Stromausfall vertretend.

Platen und Heine tauchen auch auf, die zusammengeschweißten Dioskuren. Und es sind wenig schmeichelnde Erwähnungen von Nietzsche zu lesen, “de[m] große[n] Dichter und mittelmäßige[n] Philosoph” (30. 11. 2012), dem Brandstifter. Oh ja, schon lange ist es an der Zeit, ein wenig Ordnung und Rang einzuführen im Kabinett unserer alten Kulturgespenster. Ohne ihn zu nennen gibt es überdies eine etwas lustige Anspielung auf Heidegger am 30. 5. 2012: “Das Wesen des Glücks: Seine Gewesenheit” (was en passant gesagt perfekt unübersetzbar in eine romanische Sprache wäre). Die Politik ist selbstverständlich da, sie ist bekanntlich eine unerläßliche Komponente der Luft, die wir atmen. Es gibt dazu Kommentare, die weit entfernt sind von der üblichen political correctness; so am 27. 10. 2012: “Deutschland: Zu verkaufen. Ohne Werbeschild, ohne Makler, zu jedem beliebigen Preis.” Ein Deutschland übrigens, vor dessen Vergangenheit der Autor die Augen nicht verschließt: der kriminelle Rußlandfeldzug ja, aber auch die Wunde Dresden. Erwähnt sind auch zwei haarsträubende Romantiker, die zugleich geschworene Feinde der Spezies homo sapiens sapiens gewesen sind: Hitler und “der Mondpoet” Stalin.

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Das maßgebende Programm befindet sich im schon zitierten Vorwort Zuvor: “Mir ging es weder um ein 'Wort zum Tage', also um eine nachvollziehbare zeitweilige Aktualität, noch ausschließlich um Belehrungen jenseits von Zeit und Raum, sondern um Spiegelungen, Durchblicke und Irrlichter aus einer Welt in Scherben.” Noch eine Übereinstimmung mit Camus im Projekt – der 'Welt in Scherben' hätte er sicher zugestimmt. Camus aber war zeitlebens ein Erbitterter, und dies in einer Zeit, deren qualifizierter Deuter er hätte sein wollen. Nicht viel dergleichen bei Stolz. Es gibt bei ihm nur mehr noch ein nicht immer leichtes Sichbehaupten in einer Welt, die aus Tagen besteht, in einer durch und durch ungewissen Welt. In solch einem Programm ist Platz obendrein für Selbstratschläge, nicht ohne einen Flair von Aristokratismus. Sozusagen ist er zum Metronom von sich selbst geworden auf dem Weg einer tagtäglichen Reflexion über eine Zeit, über eine (auch die persönliche) Welt: ein Grenzposten (“Ich lebe an den Grenzen”, 5. 7. 2011).

Ich möchte mir erlauben, dem Leser zu suggerieren, diesen Nieselregen von manchmal harten, lapidaren statements, die, unnötig darauf hinzuweisen, sich nicht notwendig mit den eigenen decken, notfalls mit einer gewissen Nonchalance über sich ergehen zu lassen. “Der Selbstmörder ist ein Deserteur, der zu verfluchen ist wegen seines Verrats” (2. 6. 2011). Aber manchmal nuanciert er, oder begrenzt, oder unterminiert, was er anderswo behauptet hat; so am 3. 3. 2013: “Der Selbstmord: Ein Prozeß, den wir gegen uns selbst führen” (man könnte hinzufügen: der unerbittlichste). 2014 kommt er wieder einmal darauf zurück, 13. 3. 2014: “Sind Selbstmörder mutig?” Die Sicherheiten weisen plötzlich Risse auf, und man läßt zu, dass unter Umständen - unter der Folter - die Selbstzerstörung doch legitim wäre (übrigens – ein großer deutschsprachiger Essayist des 20. Jahrhundert, die Rede ist natürlich von Jean Améry, hätte hier doch auch manches hinzugefügt). Und dass in Deutschland zur Zeit ein radikalerer Sozial-Faschismus (radikaler als der Alt-Faschismus, 14. 1. 2012) herrscht, soll wohl eine etwas zornige Boutade sein, oder ein Stich gegen die Fundamentalisten der Demokratie geführt; zum Vergleichen braucht man nur einen protokollarischen Besuch im heutigen Budapest abzustatten.

Es ist schon eine Menge Zeit her, dass der Zusammenbruch der grands récits proklamiert wurde, in der Zeit beiläufig gesagt ziemlich parallel laufend mit der endgültigen Invasion unseres Lebens mit allerhand digitalen gadgets. “Das Ende der Liebe erhöht die Sehschärfe”, so der Autor, und ein Paar abstrakter oder weniger abstrakter Lieben sind uns allen doch schon auf der Strecke geblieben. Ich mag besonders seine aperçus, die auch von der Perplexität - der Angst? - herrühren können. “Jeder hat diesen inneren schwarzen See, von dem der Tod ausgeht” (19. 1. 2012).

“Niemals den Versuch aufgeben etwas zu wissen” steht zu lesen unter dem 4. 8. 2011. Zu merken, dass das vom selben Autor stammt, der uns so komplementär rät: “Sich nicht beeindrucken lassen von den eigenen Defekten”. Unvermeidlich - und fröhlicherweise weichen wir stellenweise von ihm ab (ganz unter uns, wann waren bitte sehr die Basken das letzte Mal 'geduldig' und 'still', 17. 10. 2013)? Hauptsache ist doch, dass man sich wieder erkennen kann auf der Landkarte, die unter unseren Augen allmählich wächst - eine Landkarte von, unter anderem, Sehnsüchten und Mahnungen, für deren komplette Erschließung ein feines Sprachgefühl vonnöten ist.

Über die Stärke des Autors wußten wir schon etwas; noch ein letztes Belegstück: “Man muß verlassen werden, um vorwärtszukommen” (3. 12. 2012). Eine Prise Hoffnung bekommen wir doch schon auch ab und zu, so am 8. 10. 2013: “Ja, unser Glück liegt in uns. Es liegt an uns, was wir aus dem Leben machen.” Einladungen, Herausforderungen eines klarblickenden und schon etwas skeptischen Rebellen. Wie bei Marc Aurel, auch hier könnte man wohl so etwas wie ein Arzneikästchen für einige unserer Lebensschwierigkeiten zusammenfummeln. Quod erat demostrandum.

* Stolz, Rolf, Tagehefte. Heft Eins [1. Mai 2011 - 31. Dezember 2012]. Köln: Kidemus, 2016. (fester Einband, 128 S., 14,90 Euro) ISBN 9783981577914

* Stolz, Rolf, Tagehefte. Heft Zwei [1. Januar 2013 – 31. Dezember 2014]. Bärenklau in Brandenburg: Edition Bärenklau, 2017. (fester Einband, 168 S., 21 Euro) ISBN 9783741256363