kaddisch für einen verblendeten
SAID
je ne suis qu’un piéton, rien de plus.
arthur rimbaud
ich weiß, eines tages nähert sich der fremde und verübt seinen anschlag hinterrücks. dann
legt er sich auf den rücken und flüstert mit dem himmel. ich als gesetzloser bin imstande,
von der tat zu erzählen – auf keinen fall chronologisch.
nur die ohne charakter legen sich eine methode zu. ich hingegen habe nur einen geschmack,
samt der einschlägigen passion. damit brachte ich es immerhin fertig, gleichzeitig frauen und
der freiheit zu huldigen. ich schließe eine frau in meine arme und finde wörter, die nur für sie
bestimmt sind. ich lasse sie sprechen, bis sie schön ist, dann nimmt sie mich. ich habe mich
nie gelangweilt, denn ich suchte keine herrschaft, nur die schönheit.
man beschimpft mich oft als agenten des südens im schlafgemach des nordens. ich bekenne
mich vormittags zum islam. ab 18 uhr diene ich dem abendland. ich verbinde die gegensätze
auf meinem leib. ob das der gesundheit zuträglich ist, bestimmt wohl das feuilleton, wie
vieles hierzulande.
meine poesie ist vom fleisch genährt, ich habe stets von wirklichen dingen gesprochen. und
alles, woran ich jemals hing, hat mich jäh verlassen – inmitten der ersten träume.
plötzlich wurde das kind eine person der öffentlichen meinung. dennoch, ich habe keine
angst vor der zivilisation, aber die divergenz zwischen technik und erinnerung ängstigt mich.
ich glaube an die innere bewegung der dinge und habe die ewigkeit vor mir. ein luxusartikel
im winkel eines gebrauchtwarenladens wartet und hofft. jene hoffnung und die angst vor
dem finder bilden eine wahrheit, die brennt, die trägt. hinzu kommen rituale. sie gehören zur
wahrheit wie klappern zum handwerk. ein solides handwerk ist vonnöten, wenn einer auf
eigene art überleben will. wenn ich bei einer verkehrsampel auf grün warte, bete ich zum
gott der ameisen, mit einem fuß in der ewigen zivilisation. ich weiß nämlich, daß ich auf
dieser welt mehr verlieren kann als mein leben.
als „kleinasiate“ bin ich überzeugt, vernunft und leidenschaft sind verbündete gegen die
große gebärde des abendlands – gegen die ausschließlichkeit. ich verringere täglich die
berührungsfläche mit der welt und bleibe mir treu. ein kosmopolit, der sich endlich hinsetzen
will, um den alltag zu betrachten. ich habe immer außerhalb der zeit gelebt und binnen der
mir bestimmten zufälle. geflüchtet bin ich stets vor eigener wut. die flucht wurde zuweilen
besänftigt durch eine fremde haut, die um mich buhlte.
ich unternehme viel für meine demut. gegen dämmerung mache ich das licht aus und
betrachte die wolken. sie schieben sich hin und her, weil sie immer noch nicht wissen, wohin
sie wandern sollen. ich gehe spazieren und trage einen kieselstein in der hosentasche. sein
jahrtausendgewicht überzeugt mich von der eigenen entbehrlichkeit.
ich weiß, in deutschland muß man ohne jegliches sentiment sein, wenn man ernst genommen
werden will. mein heilmittel gegen diese geistesschwäche, sprache und gedächtnis. zum
erinnern brauche ich niemanden. wenn die einsamkeit sich aufdrängt, erzähle ich mir eine
geschichte, immer die gleiche. bis sie sich für ein anderes ende entscheidet und mich von der
zwangsläufigkeit befreit.
um mich herum sehe ich immer mehr ordentliche menschen, die verloren sind. man könnte
meinen, sie weinten um ihre bettwäsche. manche weinen gar um eine heimat. doch niemals
wird es fremden händen gelingen, mein heimweh kompatibel zu machen – den fall bespreche
ich mit meinem schatten. als hätte ich nicht das recht, die dinge, die mir passiert sind, auf
meine art zu fassen – das biologische wort dafür wäre wiederkäuen.
erwächst einem nicht jegliches begehren aus eigenen schritten? ich bin ja nur ein fußgänger,
ein müßiggänger auf der suche nach seiner freiheit. ich gehe durch gräser und wörter und
finde einen gott. er belehrt nicht, bekehrt nicht und darf neben mir verweilen.
ich verbinde durch die betrachtung die zeit mit dem raum und hebe die fremde auf. dabei
beschütze ich, ohne rücksicht auf verluste, die zwei regungen meines lebens –
gebärde und erinnerung.
ich gehe immer fort, wenn mir die fenster zu eng und die menschen zu klug werden. und es
gab genug davon in meiner nähe.
„besiegt, sir, doch niemals geschlagen“, wie es in der sprache der südstaaten hieß.
doch zuweilen bin ich müde, jeder landschaft die wünsche zu erfüllen. dann nehme ich
zuflucht zu meinen ungewißheiten, denn ich weiß nie um verbotene worte. ich suche nur
einen ort ohne gesinnung, an dem auch verbrechen begangen und fragwürdige geschäfte
getätigt werden können – einen ort zur annäherung.
ob der ort auf dem minikontinent zu finden ist –
mit seinen schönheitssalons, seiner stets kompatiblen vernunft, seiner rüstungsindustrie?
dennoch, in diesem europa habe ich eine sprache gefunden. sie verleiht mir die kraft, einen
ausdruck für meine freiheit zu finden und die gelassenheit, die herrschende zivilisation zu
dulden, ohne jene blendende livree anzuziehen, die europa seinen fremden verpaßt.
deswegen habe ich 32 jahre lang den blauen flüchtlingsausweis bei mir getragen, bis ich der
grenzkontrollen überdrüssig wurde. inzwischen besitze ich sechs verschiedene pässe,
in verschiedenen farben.
oft bleibe ich im bett mit meiner melancholie, döse vor mich hin, schlafe ein wenig, trachte
aus dem fenster und berücksichtige die erfordernisse des schweigens. aber mit kalkulierter
fantasie kann ich nicht fliegen. ich brauche schon das kribbeln der nutzlosigkeit. was dabei
zerfällt, berühre ich und meide das bestehende.
es gibt inzwischen zu viele pilger ohne gott. nennt man das nicht zivilisation?
ist dieses wort kein hohn nach auschwitz?
ich weiß, was rilke hölderlin zuflüsterte. „hier ist fallen das tüchtigste.“
als ob der deutscheste aller deutschen dichter, der seiltänzer ohne netz, die empfehlung nötig
hätte. er wußte, was fallen bedeutet. ein anderes wort für ein schweigen, das sich mit der zeit
verbindet – das sprechen hingegen verbindet uns nur mit dem raum. hat er deswegen beinah
40 jahre im schweigeturm gewartet und sich scardanelli genannt, einen schutznamen gegen
die herrschenden verhältnisse?
übrigens, ich glaube nicht, daß ich geflüchtet bin – ich wollte nur distanz gewinnen zu mir.
ich habe die flucht überstanden, weil ich mich immerzu an halbwahrheiten gehalten habe.
ein wenig aufklärung für den zynismus der europäer. ein wenig knoblauch für das
ressentiment der antisemiten. ein wenig wodka gegen die islamischen eiferer. mit einem
gesicht wie aus schlechtem fließpapier geschnitten, gut abendländisch zerredet.
halbwahrheiten rühren die menschen an und veranlassen sie, etwas für den erzähler zu
empfinden. die wahrheit allein erschreckt ja nur, und die zuhörer ziehen sich zurück in ihr
gehäuse. und die lüge wärmt zuweilen nur die erzählenden.
zuzeiten bin ich geneigt, alles fallen zu lassen und wieder hinauszuziehen, das nötige zu
landstraßen fällt mir immer ein. ein gaukler ist nie verlegen um ein lied, selbst wenn er ins
licht gezerrt wird. vielleicht finde ich dann mit den dingen eine sprache, die uns entspricht –
erst dann beginnt die suche.
ich war stets versucht, mein fleisch zu erkennen und seine begierden –
daraus entstanden wörter. wenn ich keine bücher mehr schreiben kann, wechsle ich die
branche und verkaufe policen gegen kommunismus und kanaken.
zwischen zerrissenheit und demut erzählt das kind von bildern und regungen, vorbei an
ermittlungspatrouillen des rationalismus. bis ich die kindheit wieder erfaßt habe, tobe ich
mich auf vielen leibern aus – zwischen biographie und autobiographie.
meine bestimmung ist vielleicht, nach mir zu suchen – mit dingen, mit wörtern. die fakten
erkenne ich nur soweit an, als ich sie verwenden kann. ich gebrauche nur wörter, auch gegen
mich. das ist alles, was ich für poesie tun kann – die juristische unschärfe dieser liasion
bekümmert mich wenig.
vor der verschwörung der dinge fürchte ich mich nicht. dagegen wehre ich mich mit einer
prise unvernunft, vertrauen auf eigene betrachtung, und einer portion mißachtung für
mitteleuropäer – sie wollen ein unblutiges denken.
vielleicht aber bin ich nur eine schäbige kleinigkeit, durch und durch genährt von unruhe.
wie ein narr sammle ich erst fakten. dann werfe ich sie ab für die bewegung zwischen
den dingen – und die oszillierung bildet die brücke für den fußgänger. ich finde wörter auf
der straße, als warteten sie nur auf meine hand. ich reihe sie aneinander, wie perlen an eine
schnur, und verkaufe sie an die einheimischen. die touristen, schädlicher als terroristen, sind
längst taub. doch so ganz ohne kirren komme ich nicht aus. ich bin abhängig von einer
schönheit, die vor nichts zurückschreckt.
mein wort bildet meinen stil. und er weiß: den tod kann man nur mit poesie besiegen. dann
können wir nur warten. weil wir immer warten, auf das gewitter, auf eine frau. appetit auf
menschenfleisch, wie novalis die liebe umschrieb. gewiß, auch ich begehre, will aber nicht
erziehen und benehme mich niemals zivilisiert – ich achte auf meine würde.
die deutsche sprache?
ich ging hin, ich ging barfuß und ergab mich. aus der demut wächst die revolte. sie verbindet
mich wiederum mit der sprache. ob die deutsche semantik mich vor dem kz gerettet hätte?
zwar bin ich kein jude. doch ich halte mich an franz fanon, den schwarzen propheten der
barfüßigen. „wann immer jemand einen juden beleidigt, höre gut zu, er meint auch dich!“
kein jude, doch von der anlage gehöre ich zu den misrachim – die aschkenasim siegen zu oft.
meine oberste instanz ist meine scham; ich begegne ihr täglich, wenn ich schreibe, sprachlos
wie ein tier. das tier hört in seinem schweigen dinge, die der schriftsteller benötigt für seine
glaubwürdigkeit.
und solange ich der sprache täglich ein wort abringe, interessiert mich der tod nicht – aber
der schwerelose raum des hungers. ein rückzugsterrain gegen den überfluß, gegen den lärm.
ich schütze mein wort mit scham und gedächntnis.
fast alle zeugen meiner vergangenheit sind verschwunden. hingerichtet, selbstmord, auf der
flucht erschossen. und die häuser?
sie wurden abgerissen.
geblieben sind erinnerungsschläge, die an eine unkartierte gegend meiner jugend erinnern.
wenn ich noch einmal zur welt komme, dann als musiker, die traversflöte wäre dann mein
instrument. sie ist leicht und stopft einem das maul. dann wäre ich nicht mehr auf die sprache
angewiesen und gehe jede straße bis zum ende, der schönheit gerade in die arme. doch was
hat sie mir bisher schon gebracht? als wäre die schönheit ein dienstmädchen.
ich gehe barfuß umher und entziehe mich dem hass, der servil macht, und dem schema,
das die ignoranz fördert.
ich fülle den raum zwischen meiner haut und der welt mit langsamkeit und melancholie.
an der schwelle zwischen kindheit und zukunft bleibe ich mit dem inneren blick stehen. aus
der nähe wie ein verliebter, aus der ferne wie ein fremder.
dabei ist meine heimat sehr leicht zu erreichen, zu fuß, nachts, im traum. niemand hindert
mich daran, dorthin zu gelangen. was ich unterwegs küsse, wird schön. das gilt auch für eine
frauenhaut. gewiß, schönheit ist politisch unkorrekt, denn sie setzt täuschung voraus.
politisch korrekt ist nur europa, mit seinem vorrat von permanganat und panzern –
eine atempause zwischen penicillin und kortison.
ich betrete vehikellos jede landschaft und verleugne nie eine haut, die ich geküsst habe. mein
mund ist das organ zur wahrnehmung, er taugt nicht zur verkündung. dabei halte ich es nicht
für nötig, mich auf die herrschende geschwindigkeit einzulassen. ich warte geduldig auf eine
neue ordnung, auf eine langsame republik.
nur allmählich sollte man aus dem schlaf der kindheit aufwachen. ich aber bin jäh geweckt
worden und in die zivilisation geworfen.
wie ich mir meinen tod vorstelle? ohne lamento und plötzlich. und ich will ihn nicht sehen.
er soll seine aufgabe erledigen, korrekt und leise, am liebsten auf der straße.
mit der zeit habe ich mich entfernt von mir. doch die zeit war nicht rasend. so daß mir die
entfremdung gar nicht aufgefallen ist. schuld daran sind die sprachen. die eine läßt mich
nicht los, die andere zieht mich fort – immer auf der suche nach einem zwischenort.
vielleicht noch einmal in teheran – auch ein zwischenort – einen langen spaziergang machen.
was ich sehen will, ist vergangen. vielleicht trösten mich aber die wortfetzen der passanten –
ob sie mich dennoch begreifen?
ich dachte immer in lichtjahren und empfand in sekunden. das alles bin ich heute, und meine
summe ist eine geheimzahl.
nun, ich bin südstaatler und gehorche der tradition, höfliches schweigen zu bewahren.
sokrates hat nie ein wort niedergeschrieben, jesus von nazareth auch nicht. die crux mit den
wörtern ist, daß sie ihre eigene realität annehmen – fortan taugen sie nicht mehr für fragen.
aber natürlich kann ich fliegen. schade, daß es in den modernen zügen keine fenster mehr
gibt. bei den alten habe ich sie oft geöffnet und bin hinausgeflogen. wie herrlich es war,
von oben auf die rapsfelder herunterzuschauen. doch ich kehrte bald ins abteil zurück, ich
kann nicht lange fliegen – dazu habe ich nicht den atem.
ich hatte einmal ein haus mit einem hof. dort wartete eine platane auf mich. hörte sie meine
schritte, warf sie blätter ab – und ich wurde schön. natürlich war meine platane geschützt. ich
hatte geranien zu ihrer bewachung angewiesen. sie standen um den baum, genossen den
schatten und beschützten meine platane. mein haus hatte viele zimmer, sie blickten voller
scham auf den innenhof. ich gehe durch das haus und öffne die türen. hinter meinem rücken
wird getuschelt, ich wische die flüsternden fort.
sollte ich auch nur für einen augenblick jenes haus aus dem gedächtnis verlieren, fiele die
welt gewiß auseinander. ich selbst bin längst aus dem gleichgewicht und darf nicht fallen.
gegen das schwindelgefühl – philister nennen es angst – hilft nur eines:
aufrichtige feinde, selbst wenn die melodie versiegt ist, die uns getragen hat.
doch auch die finsternis des wortes hilft.